Kesseltalbahnprojekt Seite 4

Eine Eisenbahn durch das Kesseltal? –

Die Geschichte des Kesseltalbahn-Projektes 1904 – 1914

Von Helmut Herreiner


VI.) Nördlingen oder Donauwörth – wer setzt sich durch?

 

In einem Brief an Pfarrer Offinger in Bissingen schrieb Müllermeister Gerold von einer sehr großen Agitation der Nördlinger Seite in und um Amerdingen.

 

Am 13. Mai 1906 leitete Hofrat von Reiger aus Nördlingen eine Versammlung in Amerdingen, in welcher er die Vorteile einer Lokalbahn von dort aus nach Nördlingen herausstellte. Neben dem großen Interesse der Bürger betonte er, die Strecke sei deutlich kürzer und käme deshalb naturgemäß viel billiger. Der Abgeordnete Dr. Schmidt aus Nördlingen ergänzte, das obere Kesseltal orientiere sich seit Jahrhunderten verkehrsmäßig ins Ries nach Nördlingen, und bezeichnete die Bissinger Beschlüsse als übereilt. Hierbei erntete er Widerspruch bei Pfarrer Gradl, der betonte, gerade durch eine Bahn durch das ganze Kesseltal würden sich die alten Verkehrsströme ändern. Nachdem der Nördlinger Magistratsrat Sallinger aber auch für eine Bahn Nördlingen – Höchstädt plädiert hatte, wurde eine Resolution angenommen, nach der eine Eingabe einer generellen Projektierung für eine Bahnverbindung Amerdingen – Nördlingen an das königliche Verkehrsministerium gefertigt werden solle. Die Stadt Nördlingen übernehme dazu sogar die Projektierungskosten.19) Umgehend erfolgten in den nächsten Tagen dazu geharnischte Repliken im Donauwörther Anzeigeblatt. Nur weil Nördlingen an ihren eigenen Vorteil dächten, könne man doch nicht den weitaus größten Teil des Kesseltales für immer vom Verkehr ausschließen. In einem „Mahnwort“ an die Kesseltaler hieß es, sie sollten sich durch Nördlingen nicht bange machen lassen.

 

Am 31. Mai 1906 erklärten die Gemeinden Münster und Erlingshofen schriftlich: „Die beiden unterfertigten Gemeinden Münster und Erlingshofen stehen dem beabsichtigten Lokalbahnprojekt Amerdingen – Donauwörth in keiner Weise feindselig gegenüber; im Gegenteil, ist es nur zu begrüßen, wenn Münster, wie wohl beabsichtigt sein dürfte, einen Halteplatz der neuen Bahnlinie bekommt.“20)

 

Es scheint, als wollte keiner der beiden Kontrahenten, ob Nördlinger Eisenbahn-Komitee oder Kesseltalbahn-Komitee, dem anderen das Heft des Handelns überlassen, denn die Ereignisse überschlugen sich fast. Am 27. Mai fand eine Versammlung des Nördlinger Komitees in Diemantstein statt. Die „Kesseltalbahnfreunde“ respektive das Kesseltalbahn-Komitee luden derweil zu einer Versammlung in Amerdingen am Pfingstmontag, den 4. Juni 1906, um zwei Uhr Nachmittag im Sommerkeller ein. Schon die Einladung sorgte mit deutlichen Worten für Furore, denn dort ist Folgendes zu lesen:

 

„Die Nördlinger Bestrebungen, gegen die Erbauung der von uns gewunschnen Kesseltalbahn, zwingen uns, betr. Bahn-Angelegenheiten nochmals eingehendst zu prüfen und unsere Pläne und die Nördlinger Vorschläge genau miteinander abzuwägen.

 

Zu dieser Besprechung laden wir alle Freunde unseres Planes für eine Eisenbahn durch das ganze Kesselthal – Amerdingen – Diemantstein – Bissingen – Donauwörth – dringendst ein, damit sie durch ihre wiederholte, begeisterte Zustimmung unsere Bestrebungen neuerdings bekräftigen.

 

Wir laden zu diesen Besprechungen auch alle diejenigen Kesselthaler ein, welche durch die Nördlinger Strömung wackelig geworden sind und nicht mehr wissen, auf welche Seite sie sich stellen sollen. Hoffentlich werden dieselben eine ruhige, vorurteilslose Abwägung der sich gegenüber stehenden Ansichten vertragen können.

 

Die Amerdinger Pfingstmontag-Versammlung, soll die erste, notwendigste Bedingung zur Erreichung einer Eisenbahn für das Kesselthal „die Einigkeit der Bewohner des ganzen Landstriches“ herstellen und bitten wir deshalb „um eifrigste Beteiligung an unserer Versammlung. Jede Uneinigkeit wird den Kesselthalbahn-Hoffnungen empfindlichst schaden und das End vom Lied wird sein gar keine Bahn.“

 

Insbesondere laden wir auch diejenigen Herren von der Württembergischen Grenze zu unseren Berathungen freundlichst ein, welche bisher für unsere Bahnlinie so großes Interesse bewiesen haben.“21)

 

Der vorletzte Satz ist im Nachhinein besonders bemerkenswert, da er von größerer Voraussicht zeugt als sich die Verfasser dieser Einladung wohl selbst träumen ließen. Aber auch der Anfang zeugt durchaus von selbstbewusstem, offensivem Auftreten des Kesseltalbahn-Komitees.

 

Diese Einladung verfehlte ihren Zweck nicht, denn am Pfingstmontag waren in Amerdingen eine Stunde vor dem anberaumten Beginn so viele Interessierte versammelt, dass die Versammlung trotz drohenden Regens und nassen Bodens ins Freie verlegt werden musste. Etwa 30 ungeladene Gäste aus Nördlingen, darunter der Bürgermeister Hofrat von Reiger, wollten sich ebenfalls persönlich anhören, was die Gegenseite zu sagen hatte. Die Versammlung dauerte trotz des widrigen Wetters knapp drei Stunden. Ludwig Auer als Vorsitzender des Kesseltalbahn-Komitees hielt eine lange Rede, die im Übrigen in einer elfseitigen Beilage zum nächsten Donauwörther Anzeigeblatt komplett veröffentlicht wurde.22) Er gestand den Nördlingern ein legitimes Interesse für eine Bahn ins obere Kesseltal zu, warf ihnen aber gleichzeitig lokale Interessen vor, die aber keine darüber hinausgehenden patriotischen Motive anführen könnten. Hinter den von Donauwörth aus forcierten Bestrebungen für eine komplette Kesseltalbahn stünden indessen vaterländische, national-ökonomische und bayerisch-volkswirtschaftliche Gründe. Aus patriotischer Gesinnung wolle das Kesseltalbahn-Komitee einen landschaftlich schönen und volkswirtschaftlich gesegneten Bezirk dem Vaterlande eröffnen und dienstbar machen. Auf Grund dieser überregionalen Interessen ergebe sich im Übrigen auch, dass eine Kesseltalbahn nicht bloß den Charakter einer Lokalbahn habe, sondern beste Aussichten habe, „in die Reihen der Bahnen von größerer Bedeutung zu kommen.“ Ludwig Auer verwies dabei auf die mögliche Verbindung mit Württemberg und den Industrieorten Neresheim, Heidenheim und Göppingen, wenn man die Bahn von Amerdingen aus über Dischingen nach Heidenheim oder Neresheim weiterbaue. Diese Zukunftspläne wären nach Auers Ansicht auch von großer Bedeutung für die Rentabilitätsfrage. Ausgelacht von den Nördlinger Anwesenden wurde Ludwig Auer, als er auch noch auf den Zusammenhang der Kesseltalbahn mit der Schifffahrt auf der oberen Donau verwies, für die er sich ja auch bei jeder Gelegenheit einsetzte. Die erwähnte Sonderbeilage zum Donauwörther Anzeigeblatt über die Amerdinger Versammlung rügt deutlich das „rohe Gelächter“ und das „nicht sehr feine Benehmen“ der ungebetenen Gäste aus Nördlingen.

 

Auch naheliegendere wirtschaftliche Gründe für eine Bahn über Bissingen würden die Gegenvorschläge ebenfalls bei weitem überwiegen, stellte Ludwig Auer fest. Der Wert der vielen Tausend Tagwerk Waldbesitzungen der Fürsten Wallerstein und Taxis entlang einer Donauwörther Kesseltalbahnlinie würde vielleicht um Millionen steigen. Handel und Gewerbe würden durch den Anschluss an den Eisenbahnknotenpunkt Nördlingen profitieren.

 

Ausdrücklich lobte Auer die Gemeinden Amerdingen und Diemantstein, die trotz ihrer traditionell engen Verbindung zu Nördlingen treu und fest zu den Bissinger Beschlüssen stünden. Zum Abschluss seiner kämpferischen, teils sehr auf die Emotionen abzielenden Ansprache nannte Ludwig Auer einige ausdrückliche Befürworter seiner Planungen. Er verlas unter anderem die Stellungnahmen der Stuttgarter Abteilung der Westdeutschen Eisenbahngesellschaft, der Handwerkskammer Augsburg, des gräflichen Rentamtes Jettingen, des Taxis´schen Rentamtes Neresheim, der fürstlichen Kanzlei Wallerstein und des Landtagsabgeordneten Dr. Storz aus Heidenheim. Anschließend erteilte der Versammlungsleiter Schulinspektor Schips von Schloss Neresheim das Wort. Dieser überbrachte die Grüße des Spezialisten in württembergischen Bahnfragen, des Landtagsabgeordneten Vogler, der wegen seiner Verdienste um die Härtsfeldbahn sogar zum Ehrenbürger der Stadt Dillingen ernannt worden war und der den Eisenbahn-Bestrebungen durch das Kesseltal lebhafte Sympathien entgegenbringe. Schulinspektor Schips wunderte sich, dass die „Goldgrube“ Trachyttuff im Kesseltal nicht schon längst besser genutzt werde.

 

Der nächste Redner, Bürgermeister Wilhelm Gebhardt aus Donauwörth, brach ebenfalls eine Lanze für die Bahn durch das ganze Kesseltal. Nach seinen Worten ging dem Nördlinger Projekt die Bauwürdigkeit ganz und gar ab. Das Donauwörther Projekt nämlich böte „geringere Terrainschwierigkeiten, größere Rentengarantie und mehr Vorteile für die Kesseltaler, auf welche es neben allgemeiner verkehrspolitischer Rücksichten allein anzukommen habe“. Die angestrebte Kesseltalbahn Donauwörth – Amerdingen sei die einzige wirkliche, da für das Kesseltal bestimmte Bahn, die Alternative einer Nördlinger Bahn hingegen verbinde lediglich einzelne Kesseltalgemeinden mit der Stadt Nördlingen.

 

Mit Ausnahme der Anwesenden aus Nördlingen stimmten alle Versammlungsteilnehmer einer vom Donauwörther Bürgermeister beantragten Resolution zu, nach der das Kesseltalbahn-Komitee alle erforderlichen Schritte zum Bau einer Bahn Donauwörth – Bissingen – Diemantstein – Amerdingen in die Wege leiten sollte.

 

Der Bissinger Pfarrer Martin Offinger ergänzte das bereits Gesagte durch Zahlen: Während durch eine Bahn von Nördlingen aus höchstens 14 Orte, davon 11 im Kesseltal, mit insgesamt 3500 Einwohnern an eine Bahn angeschlossen würden, seien es von Donauwörth aus 28 Orte mit 6212 Einwohnern. Zwar habe auch die Linie kesselaufwärts technische Schwierigkeiten, die aber nicht zu vergleichen seien mit der Nördlinger Trasse über die Rauhe Wanne bei Bollstadt. Diese höchste Erhebung des Südrieses verglich Pfarrer Offinger gar in biblischer Weise: „Besondere Schwierigkeiten macht die raue Wanne, welche wohl der Ararat werden wird, wo die Arche stehen blieb, da helfe auch nicht der Glaube, von dem es heißt, dass er Berge versetzen könne.“

 

Von den angebotenen 25 Minuten, die dem Nördlinger Bürgermeister, Hofrat von Reiger, als Redezeit zur Verfügung gestellt wurden, nutzte dieser lediglich eine Viertelstunde. Angesichts der herrschenden Stimmung bei der großen Mehrheit der Zuhörer hatte er sicherlich auch keinen leichten Stand. Er machte erneut darauf aufmerksam, dass der Verkehr insbesondere vom oberen Kesseltal aus nach Nördlingen und vielfach auch nach Höchstädt gehe und deswegen auch Höchstädt ein generelles Projekt Diemantstein – Höchstädt beschlossen habe. Laut der Staatsregierung dienten Lokalbahnen dem lokalen Verkehr und sie dürften keine Verkehrsströme ablenken. Zudem dürften die Bissinger und Donauwörther Befürworter nicht mit den Gemeinden Bollstadt, Zoltingen, Ober- und Unterringingen rechnen, die sich allesamt für Nördlingen ausgesprochen hätten. Dass die Bereitschaft der Nördlinger zu finanziellen Opfern durchaus ausgeprägt sei, machte Hofrat von Reiger deutlich, indem er namens der städtischen Kollegien erklärte, dass seine Stadt die Kosten eines generellen Projektes und alle Kosten der Grundablösung durch den fürstlichen Wald trage sowie einen Zuschuss von 50.000 Mark unter der Voraussetzung leiste, dass die Kesseltaler zu einem ähnlichen Engagement bereit seien.

 

Mit einem optimistischen dreifachen Hoch auf die Kesseltalbahn Donauwörth – Amerdingen – Württemberg endete diese denkwürdige Pfingstversammlung. In der Presse fand sie ein großes Echo, das in Nördlingen naturgemäß weitaus am kritischsten ausfiel. Ein Bürger beklagte etwa im Nördlinger Anzeigeblatt, dass in Amerdingen Rede und Gegenrede nicht gestattet waren23). Dem widersprach wiederum Ludwig Auer in einem anderen Zeitungsbericht energisch.

 

In einem weiteren Zeitungsartikel schrieb sein Gegenspieler, Hofrat von Reiger: „Würde die Bahn Donauwörth – Amerdingen gebaut, dann müssten die Bewohner von Amerdingen zuerst nach Donauwörth und von dort nach Nördlingen fahren, eine lange und nicht billige Fahrt.“ Der Abgeordnete Freiherr von Frankenstein erwiderte darauf, er glaube, falls in Monheim ein Bezirksamt kommen sollte, müssten die Amerdinger und die oberen Kesseltaler nach Nördlingen fahren und von da nach Donauwörth. Dies bedeute „eine lange und nicht billige Fahrt“24).

 

Eine siebenköpfige Delegation des Kesseltalbahn-Komitees, darunter zwei Angeordnete, begab sich am 27. Juni 1906 in das königliche Verkehrsministerium, um auch mündlich die Pläne und Vorstellungen darzulegen und zu begründen. Die Deputation fand „ein gütiges Gehör“ und die vorgebrachte Argumentation wurde „huldvoll beantwortet“. Eine schriftliche Mitteilung aus München folgte wenige Tage später. In der Ministerialentschließung stand zwar zu lesen, dass es sehr fragwürdig erscheine, „ob bei der nicht gerade günstigen Geländegestaltung, dem eng begrenzten Verkehrsgebiete und der geringen Dichtigkeit der Bevölkerung eine Bahnführung in diesem Gebiet ein nur einigermassen befriedigendes Ergebnis liefern würde.“ Viel lieber lasen die Empfänger des Schreibens jedoch sicherlich folgende Zeilen: „Jedenfalls steht fest, dass eine zweiseitige an die Hauptbahn angeschlossene Bahnverbindung Nördlingen – Höchstädt a/D. die geringste Aussicht auf Verwirklichung hat, und dass allenfalls nur die Erbauung einer Stichbahn in Betracht kommen könnte. Welche der angeregten Linien hiebei den Vorzug verdienen wird, kann vorerst noch nicht entschieden werden. Zur völligen Klarstellung dieser Fragen, ist die Generaldirektion der K.B. Staatseisenbahnen beauftragt worden, durch die Eisenbahnbetriebsdirektion Augsburg eingehende wirtschaftliche Untersuchungen vornehmen und vergleichende Ertragsberechnungen für die einzelnen Linien aufstellen zu lassen.“25) Die Waage schien sich also mehr und mehr zugunsten von Donauwörth zu neigen, zumal sich auch die Betriebsabteilung Stuttgart der Westdeutschen Eisenbahn-Gesellschaft in einem Schreiben vom 24. Juli 1906 an den Stadtmagistrat Nördlingen ganz und gar nicht in dessen Sinn äußerte, sondern ausdrücklich die Verbindung Amerdingen – Donauwörth durch das Kesseltal als die natürlichere und aussichtsreichere bezeichnete.

 

Ludwig Auer hatte in der Zwischenzeit auch Kontakt mit der Firma Deutsche Steinwerke C. Vetter A.-G. aus Eltmann bezüglich der Notwendigkeit einer Kesseltal-Bahn aufgenommen. In einem Antwortschreiben der Firma hieß es ebenfalls im Juli 1906, dass „für uns nur die Beförderung unsrer Erzeugnisse in dem dort gewonnenen Muscheltrass in Frage kommt. Die Menge, die wir der Bahn unter der Voraussetzung, dass sie Amerdingen berührt, voraussichtlich zuführen können, wird sich immerhin auf 300 bis 400 Waggons a 10000 kg jährlich belaufen.“26) Allein diese Firma hätte demnach pro Jahr 3000 bis 4000 Tonnen Trassmaterial per Bahn befördern lassen. Die Deutschen Steinwerke erklärten in demselben Schreiben auch ihre Bereitschaft, den Bahnbau zu fördern und nach Kräften zu unterstützen. Zu diesem Zweck seien Vertreter der Firma auch schon beim Verkehrsministerium vorstellig geworden.

 

Das Nördlinger Eisenbahn-Komitee gab seine Sache indessen längst noch nicht verloren und berief am 08. Juli 1906 eine Versammlung in Bollstadt ein, in welcher die Argumente für das ursprüngliche Projekt noch einmal aufgezählt wurden und die Gegenpartei forsch angegangen wurde. Der Ton wurde deutlich vernehmbar schärfer. Ludwig Auer schrieb im Donauwörther Anzeigeblatt einige Tage später von einer „Bollstädter Kanonade“.

 

In einer Sitzung des Kesseltalbahn-Komitees im Bräuhaus in Bissingen am 07. Oktober 1906 referierte Dr. Endriß, Professor der Geologie an der technischen Hochschule Stuttgart27). Dieser sprach von glänzenden Aussichten, die sich durch nähere wissenschaftlich-technische Untersuchungen für das Kesseltal eröffnen würden. Er nannte die Verwendung des Trasses bei vielerlei Wasserbauten an Rhein und Mosel als Beispiel. In pathetischen Worten bezeichnete er die Trass-Industrie als eine schöne, menschenfreundliche Industrie, da sie weniger mit Maschinen arbeite und die Menschen nicht in ungesunde Räume sperre, sondern Menschenkraft in freier Natur nutze. Das Resultat dieser Bissinger Sitzung sollten die Vorarbeiten zu einer später zu gründenden „Produktions-Genossenschaft für das Kesseltal“ sein. Nebenbei äußerte man sich beinahe mitleidig in Richtung Nördlingen und sprach davon, dass sich dieses in einer sehr ernsten, bedrohlichen Lage befinde, nachdem es durch die Bahn Donauwörth – Treuchtlingen viel verloren habe. Dies ist zweifellos richtig, da durch die Eröffnung dieser Bahnlinie zum 01. Oktober 1906 Nördlingen von diesem Zeitpunkt an tatsächlich abseits der großen bayerischen Bahnstrecken lag. Zudem sei aus Sicht der Rieser Metropole noch eine Bahnlinie Wemding – Fünfstetten und eine Kesseltalbahn zu befürchten. So sei es den Nördlingern nicht zu verdenken, wenn sie sich ihrer Haut wehrten. „Treffen sie dabei einen von uns etwas unsanft, wollen wir es ihnen verzeihen, weil es uns leid tut, ihnen im Interesse der Kesseltalbewohner und des Vaterlandes Kummer bereiten zu müssen.“ Beschlossen wurde, dass jede an der Kesseltalbahn interessierte Gemeinde wenigstens 25 Mark an den Komitee-Kassierer Max Premauer einzahlen solle. Komitee-Vorsitzender Ludwig Auer bemerkte abschließend, dass er seine Arbeit für diese Bahn und für das Kesseltal als ein Werk der Nächstenliebe und christlichen Barmherzigkeit im großen Stil betrachte, die ihm darum auch keine Last, sondern eine Freude sei.

 

Gut zwei Wochen nach dieser Sitzung wurde bekannt, dass die Arbeiten und Studien bezüglich der Bauwürdigkeit der Bahn von Donauwörth nach Amerdingen beständig vorwärtsgingen und auch eine in der Zwischenzeit durchgeführte Fragebogenaktion ein gutes Ergebnis gezeigt habe. Laut der Untersuchung der Trassvorräte im Kesseltal wurden drei der bisher gefundenen 18 Trasslager auf mehr als Tausend Millionen Zentner lukrativ behebbarer Masse berechnet. Im Zusammenhang mit dieser Untersuchung entstand auch der bereits erwähnte Plan von Prof. Dr. Endriss und Prof. Dr. Oebbeke über die Lage und Ausdehnung des Trassgesteins und der projektierten Kesseltalbahn.

 

Auch in Donauwörth wurde für diese Bahnlinie heftig geworben. Bei einer Versammlung des dortigen Handels- und Gewerbevereins am 08. November 1906 wurde dargelegt, wie gut eine Kesseltalbahn und eine gleichzeitig zu eröffnende Donaudampfschifffahrt das Verkehrsnetz um Donauwörth abrunden würden28). Wenige Tage darauf besuchten Geschäftsleute der Mineralindustrie das Kesseltal und nahmen die Hauptvorkommen in Augenschein. Dieser Ortstermin fiel offensichtlich positiv aus, denn es hieß anschließend, dass eine Kesseltalbahn vom streng geschäftlichen Standpunkt der Produzenten und Händler aus allen Anforderungen entspräche.

 

Dass die Kesseltalbahnproblematik weiterhin in ganz Nordschwaben bis hin nach Augsburg und ins angrenzende Württemberg Diskussionsstoff blieb, dokumentieren die zahlreichen Zeitungsberichte, die Ende des Jahres 1906 in den vielen Lokalzeitungen zu lesen waren. Hervor stach dabei wieder einmal ein von Ludwig Auer selbst verfasster Bericht, der in zwei Teilen am 12. und am 17. Dezember 1906 im Donauwörther Anzeigeblatt unter der Überschrift „Gespenster im Kesseltal“ erschien29). Alle Bestrebungen, die ein staats- und volkswirtschaftlich sinnvolles Bahnprojekt von Donauwörth aus in das Kesseltal verhindern sollten, kanzelte er als „Gewimmel von kleinlichen Ansichten und Rücksichten und Vorsichten“ ab. Ein „inhaltsloses Gespenst“ sei etwa die Befürchtung, die Bahn Dillingen – Aalen könnte durch eine Kesseltalbahn ruiniert werden. Wörtlich schrieb Auer: „Die Dillinger, Lauinger, Höchstädter usw. können überhaupts ganz ruhig sein und brauchen solch energische Proteste nicht mehr herumzuschicken. Die Sache liegt einfach so: Wird n i c h t nachgewiesen, dass im Kesseltal durch eine Bahn g a n z a n d e r e Verhältnisse geschaffen werden als bisher, dass k e i n e lebhafte Industrie, kein lebhafterer Verkehr entsteht: dann wird k e i n e Kesseltalbahn gebaut.

 

Wird aber nachgewiesen, dass das Kesseltal M i l l i o n e n-Schätze enthält, die nicht länger liegen bleiben d ü r f e n; wird nachgewiesen, dass dort eine vielseitige, lebhafte Industrie entstehen kann und entstehen wird: dann w i r d und m u s s eine Bahn gebaut werden und wenn sich alle nahen Stadt-Vertretungen auf den Kopf stellen. Dazu werden dieselben aber auch nicht den leisesten, vernünftigen Grund finden, d e n n wenn der Verkehr und wenn die Bevölkerungsziffer im Kesseltal steigt: so wird auch der Verkehr und werden die Erwerbs-Verhältnisse d e r g a n z e n G e g e n d steigen. Es werden aus der oberen Donaugegend viele im Kesseltal zu tun bekommen und wird von dort manche Fracht Donauaufwärts gehen. Statt 3 Personen die z. B. jetzt auf der Bahn Dillingen – Aalen fahren, werden dann mindestens allemal 10 fahren. Oder entsteht die Frequenz einer Bahn nicht aus der dichten und rührigen Bevölkerung? Die genannten Städte hätten allen Grund unsere Bestrebungen für die wirtschaftliche Hebung des Kesseltales f r e u d i g z u b e g r ü ß e n und sie werden dieses mit dem Tage tun, an welchem sie ihren Standpunkt in Betrachtung der Kesseltalbahn verändern. Tun sie das nicht, können wir nichts dafür, wenn sie sich über unsere Bestrebungen ärgern. Irre machen, werden sie uns nie, wir marschieren ja voraus. Wenn manche Nördlinger z. B. so heftig über uns schmähen und g l e i c h z e i t i g uns alles so andächtig nachsagen und nachmachen wie z. B. öffentliche Interessen betonen, Fragebogen schicken, ans Bergamt schreiben, Untersuchungen veranstalten usw. usw. so bestätigen sie, dass wir den rechten Weg v o r a u s g e h e n, Darum werden aber auch die irrenden Gespenster keinen einzigen unserer denkenden Freunde irre machen.

 

Am meisten stoßen sich unsere Gegner – aus gewissen Gründen – an einer Vollbahn durchs Kesseltal und an ihrer Fortsetzung nach Württemberg. Als ob beides unter den betreffenden Verhältnissen nicht selbstverständlich wäre! – Entsteht im Kesseltal eine lebhafte Stein-, Kalk-, Ton-, Sand-Industrie und bestehen die B i s s i n g e r Q u e l l e n noch weiter ihre Prüfungen so glänzend wie sie den bißherigen namentlich die Prüfung auf Radioaktivität bestanden haben: so wird eine Vollbahn und ein entsprechender Handelsweg nach allen Seiten unvermeidlich.“ Bezüglich der Angriffe gegen seine Person schrieb Ludwig Auer in demselben Artikel: „Der arme Vorsitzende des Kesseltalbahn-Komitees wird von ihnen jämmerlich zerzaust. Leider hat derselbe nur Vergnügen dabei und nicht den geringsten Schmerz und k e i n e r l e i F u r c h t.“

 

Allen Befürwortern einer Bahn nach Nördlingen gab er zu bedenken, dass eine Nördlinger Bahn sich schleunigst von der Mehrzahl der Kesseltaler Mineralvorkommen entferne, wie auch die einige Wochen zuvor angefertigte Karte nachweise. Ebenfalls nur Spott hatte Ludwig Auer für das Protestschreiben der Städte Dillingen, Lauingen, Höchstädt und Nördlingen gegen ein Bahnprojekt Donauwörth – Amerdingen – Heidenheim, in dem es wörtlich hieß: „Die Verwirklichung jener Bahnprojekte wäre einerseits gleichbedeutend mit einer bedenklichen Schädigung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse, andererseits aber auch mit der völligen Lahmlegung des Betriebes der Härtsfeldbahn.“ Auer bezeichnete diesen Protest wie auch die anderen Argumente gegen eine Kesseltalbahn ab Donauwörth als „Ausdruck einer kurzbeinigen Anschauung der betreffenden Bahnangelegenheit von einem falschen Lokalstandpunkt aus“ und rechnete seinen Lesern vor, dass man aus einem einzigen Produkt des Kesseltales, nämlich dem Trass, 350 Millionen Mark erwirtschaften könne.

 

Diese Berechnungen stießen indessen in München nicht auf offene Ohren. Einer Deputation der Städte Höchstädt, Dillingen und Lauingen, die am 15. Mai 1907 in das Verkehrsministerium reiste, wurde vom Staatsrat mitgeteilt, dass die Berechnungen nicht zur Vorlage in der Abgeordnetenkammer ermunterten. Die Summen, die aufgewendet werden müssten, ließen keine entsprechende Rentabilität erhoffen. An zu erwartenden Baukosten wurden bei diesem Gespräch genannt: Nördlingen – Diemantstein 180.000 Mark, Diemantstein – Höchstädt 900.000 Mark und Tapfheim – Amerdingen 1.300.000 Mark30). So verwundert es nicht, dass schon vorher die Handels- und Gewerbekammer für Schwaben und Neuburg entschied, sich in der ganzen Angelegenheit abwartend zu verhalten, solange aus München kein anderslautender Auftrag erging, zumal diese Kammer ja die Interessen des gesamten Kammerbezirkes zu vertreten habe und sich daher angesichts des ganzen Streites nicht einseitig festlegen wolle. Die nächste negative Nachricht folgte am 28. Mai 1907: In einer Entschließung des Königlichen Staatsministeriums für Verkehrsangelegenheiten hieß es, dass der Herr Staatsminister nicht in der Lage sei, eine Verwirklichung der Bestrebungen der Interessenten für eine Kesseltalbahn in Aussicht zu stellen31). Begründet wurde diese doch ziemlich deutliche Absage an alle Kesseltalbahnprojekte damit, dass die von den Interessenten gemachten Angaben zu Personen-, Güter- und Viehtransporten sowie zu den Betriebseinnahmen unsichere und in allen Fällen wahrscheinlich zu hoch gegriffene Schätzungen seien. Nach einem Gutachten des Königlichen Oberbergamtes München sei auch eine besonders ausgiebige Ausfuhr an Steinen und sonstigen Baumaterialien nicht zu erwarten. Obgleich die bedeutsamen Riesphänomene wissenschaftlich ohne Zweifel außergewöhnlich interessant seien, käme ihnen aber aus wirtschaftlicher Sicht keine besondere Bedeutung zu. Die Trasstuffe des Kesseltales hätten in Versuchen zudem eine stärkere Zersetzung erfahren und seien weniger glasreich. Neben brauchbarem Gestein fände sich auch verwittertes Gestein. Ob dies in größerer Tiefe weniger der Fall sei, müsse erst durch Bohrungen bestätigt werden. Eine klare Absage wurde im selben Schreiben auch der Anregung des Kesseltalbahn-Komitees erteilt, man könne eine von Donauwörth ausgehende Bahn als Vollbahn erbauen und diese bis Heidenheim oder Göppingen ausbauen. Auch einer Bahn Donauwörth – Heidenheim, so verlautete aus München, würde nur lokale Bedeutung zukommen.

 

Dass Ludwig Auer nicht geneigt war klein beizugeben, zeigte sich auf der nächsten Sitzung des Kesseltalbahn-Komitees am 30. Juni im Bissinger Bräugarten, die er danach als die bisher gemütlichste und erfreulichste bezeichnete32). Dort stellte Ludwig Auer ein weiteres Mal sein Talent als Marketingstratege unter Beweis. Eine Broschüre über die „Entdeckung des Feuerduftsteins im Herzogthum Pfalz-Neuburg, woraus der zu wasserdichten Gebäuden ohnentbehrliche Trass zubereitet wird“, die der Pfalzbayerische Ingenieur-Hauptmann Carl von Caspers anlässlich der Suche nach brauchbarem Baumaterial für die Festung Ingolstadt im Jahre 1792 verfasste, ließ Auer nach ihrer „Wiederentdeckung“ nachdrucken und verkaufte sie an die Versammlungsteilnehmer zum Preis von 1 Mark mit dem Vermerk auf der Titelseite: „Der ganze Erlös gehört dem Kesseltalbahn-Komitee.“ Obwohl einige auswärtige geladene Gäste verhindert waren, konnte der Vorsitzende des Komitees den wieder einmal unerwartet vielen Sitzungsteilnehmern einige hochkarätige Gäste präsentieren. Erschienen waren neben Prof. Dr. Endriss aus Stuttgart Inspektor Schips aus Neresheim, Ingenieur Gollwitzer aus Augsburg und Abgeordneter Frank aus Wertingen. Ludwig Auer verwies auf die finanzielle Unterstützung des Komitees durch die Fürsten Wallerstein, Taxis und Graf Stauffenberg und gab sich für die Zukunft betont optimistisch. Er beschwor die Kesseltaler Bürger, nicht an den persönlichen Vorteil zu denken, sondern gemeinsam die Hebung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse und ihres Erwerbslebens, die Steigerung ihres Besitzes und die Mehrung ihrer Einnahmen anzustreben. Wer glaube, die Trass-Angelegenheit oder die Bahn gehe ihn nichts an oder wer sich Hoffnungen auf 150 Mark für einen Dezimal Grund und Bodens mache, solle sich vor Augen halten: „Ich muss den ganzen Wagen schieben helfen, sonst bleibt auch mein Stück liegen, auf dem alten Fleck. Schaden ist leicht. Schaden kann ein Jeder.“

 

Der Komitee-Vorsitzende gab seinen Zuhörern weiterhin zu bedenken, dass die Bahn-Bestrebungen mit ihren wissenschaftlichen Gutachten und Untersuchungen, Reisen und Bücher sowie Gerätschaften wie eine zu erstehende Trassmühle eine Menge Geld kosteten. Überdies könne er selbst die nötige Zeit und Arbeitskraft für diese Sache beim besten Willen nicht aufbringen. So schlug er der Versammlung die Gründung einer Kesseltaler Produktions-Genossenschaft vor, die die Qualität der im Kesseltal vorhandenen Bodenschätze durch Untersuchungen und Versuche feststellen sollte und ihre industrielle Verwendung in die Wege leiten sollte. Umsichtig wie immer hatte Auer auch bereits einen Vorschlag für eine Satzung für diese Produktionsgenossenschaft parat. Danach sollten sich die Gemeinden des Kesseltals und der näheren Umgebung auf höchstens zehn Jahre zu einem Jahresbeitrag von zehn bis dreißig Mark verpflichten, aber auch Privatleute und Herrschaften zu einem jährlichen Beitrag verpflichten können. Ebenso sollten Gründungsaktien zu fünfzig, hundert und fünfhundert Mark ausgegeben werden. Damit sich möglichst viele Bürger beteiligen könnten, sollten zur Finanzierung der notwendigen Untersuchungen und Versuche auch Schuldbriefe ausgegeben werden.

 

Für seine Gegner aus Nördlingen und dem Donautal hatte Auer auch auf dieser Versammlung in Bissingen nur Spott übrig: „Amerdingen hat 12 Kilometer nach Nördlingen und auch zum Amtsbezirk führt kein ordentlicher Weg. Ein schmaler Fahrweg, auf dem sich zwei Fuhrwerke schwer ausweichen können, führt vier Stunden über Berg und Thal, so dass die Reisenden krumm und lahm, im Winter fast erfroren an Ort und Stelle kommen. Dabei ist es den Nördlingern noch nicht eingefallen, den Verkehr mit Amerdingen zu erleichtern. Die Bewohner des oberen Kesselthals ... müssen bei jeder Gelegenheit und bei jeder Witterung nach Nördlingen, um dort fleißig einzukaufen. Amerdingen hat schon seit 30 Jahren vergeblich eine Distriktsstraße verlangt, die von Nördlingen nach Dillingen führen soll, aber es könnte ja einmal Jemand einfallen nach Dillingen zu gehen, um dort einzukaufen! Und auch der Distrikt Dillingen baut keine Distriktsstraße, weil sich Höchstädt dagegen wehrt, wohin manche Orte (Ober- und Unterfinningen, Mörslingen) ins Amtsgericht gehören. Der größte Ort im oberen Kesselthal – Amerdingen – hat nicht einmal einen fahrbaren Verbindungsweg zu den fast an seine Fluren grenzenden Gemeinden Ober- und Unterfinningen. Wenn Jemand mit einem ordentlichen Fuhrwerk dorthin kommen will, so muss er – man höre und staune – zuerst nach Würtemberg, über Eglingen und Demmingen fahren, dann kommt er wieder nach Bayern, nach Mödingen und von da nach Bergheim und endlich nach Oberfinningen. Sind das keine unglaublichen Zustände? So sorgt Nördlingen für Amerdingen und dabei winselt es nun schon ein Jahr, dass es ohne Amerdingen und das obere Kesselthal gar nicht existieren kann!! Wir möchten einmal das Pergament sehen, auf dem verbrieft ist, dass sich die Kesselthaler auf ewige Zeiten verpflichten müssen, Nördlingen zu nähren, ohne etwas dafür verlangen zu dürfen! So lassen die Wegverhältnisse im ganzen oberen Kesselthal sehr viel zu wünschen übrig und dadurch ist allein schon bekundet, dass die ganze Entwicklung des Erwerbs, des Handels und des Verkehrs in allen Beziehungen stockt und vollständig gelähmt ist. Es ist kaum zu begreifen, wie sich die Bewohner jener Gegend solche Vernachlässigung gefallen lassen können?“

Vertrauenssache
Vertrauenssache

Zu Beginn des Jahres 1908 hatte der unermüdliche Vorsitzende des Kesseltalbahn-Komitees Unterschriftslisten aus allen betroffenen Dörfern von Kesselostheim bis Amerdingen vorliegen, auf denen die Grundstücksbesitzer bestätigten, dass sie dem Komitee im Bedarfsfalle den benötigten Grund für den Bahnbau verkaufen würden. Das Komitee sandte am 30. Januar 1908 zusammen mit dem Stadtmagistrat und Gemeinde-Kollegium Donauwörth und dem Handels- und Gewerbeverein Donauwörth eine erneute Eingabe an das Königlich-Bayerische Staatsministerium für Verkehrsanstalten, an die Abgeordnetenkammer und die Kammer der Reichsräte33). Darin bat das Komitee die genannten Behörden um die baldigste Genehmigung und Förderung einer leistungsfähigen Eisenbahn von Amerdingen über Diemantstein und Bissingen nach Donauwörth. Da das Komitee in Erfahrung gebracht hatte, dass auch die Nördlinger in diesen Tagen eine Bahn nach Amerdingen erbitten wollten, ersuchten sie die Behörden in München, „die Eingabe um eine Bahn so lange unerledigt zurückzustellen, bis ihr unsere Eingabe um die Linie Donauwörth – Bissingen – Amerdingen mit dem von den Behörden etwa noch zu verlangenden vollen Nachweis über die Industriewerte im Kesseltal entgegengehalten werden kann.“ „Sicher“, so hieß es weiter, „werden die Nördlinger Lokalinteressen nicht so schwer wiegen, als die von uns vertretenen Landesinteressen von höchster Bedeutung. Aber auch Nördlingen wird – wenn im Kesseltal eine Industrie entsteht – nur gewinnen.“ Beigelegt war dieser Eingabe unter anderem ein Gutachten von Dr. W. Sieber aus Professor Dr. Wittsteins chemischem Laboratorium. Dieses chemisch-technische Spezialinstitut hatte im Auftrag des Kesseltalbahn-Komitees im Sommer 1907 Proben des Kesseltal-Trasses untersucht. Die Resultate schienen für eine industrielle Ausbeutung sehr ermutigend. Die etwa 20 Prozent Kieselsäure im hiesigen Trass fördere bei Zusatz von gelöschtem Kalk die Bildung von Silikaten, so dass eine derartige Mischung als Naturzement bezeichnet werden könne. Die physikalischen Experimente ließen ausgezeichnete Werte bei Zug- und Druckfestigkeitsproben erwarten, die den rheinländischen Trassen zumindest ebenbürtig seien. „Es ist daher nur eine Frage der Zeit“, so das Fazit dieser Analyse, „dass das Trassmehl aus dem Kesseltal gleich dem rheinischen Trassmehl als Mörtelmaterial die ausgedehnteste Verwendung in der gesamten Bauindustrie finden wird, wenn es gelingt, durch den baldigen Bau einer Bahnlinie in die dortigen gesegneten Gegenden dieses Baumaterial, das sich in Verbindung mit Kalk durch eine außerordentliche Dichtigkeit, Ergiebigkeit und Raumbeständigkeit auszeichnet und namentlich zu Wasserbauten jedes andere Mörtelmaterial übertrifft, dem Baugewerbe auch zugänglich zu machen.“

19)    ebd., S. 463

 

29)    abgedruckt ebd., S.483ff.

30)    ebd., S.487

 

        32)   Bericht von Ludwig Auer über die Versammlung in Bissingen am 30. Juni 1907, im Stadtarchiv Donau-

              wörth

        33)   Originalschreiben vom 30. 01.1908 im Stadtarchiv Donauwörth

 

VII.) Von Donauwörth nach Nördlingen durch das Kesseltal

 

Im Jahre 1908 verfasste Ludwig Auer ein 40seitiges Büchlein und ließ es in seiner Buchhandlung drucken. Es trug den Titel „Der Natur-Zement. Einladung zu einer Produktions-Genossenschaft zur Ausnützung von vergrabenen Millionen-Schätzen“ und versprach schon auf der Titelseite: „Vertrauliche Mitteilungen von Ludwig Auer, Vorsitzender des Kesseltalbahn-Komitees, des Handels- und Gewerbe-Gremiums Donauwörth und des Süddeutschen Donau-Vereins“34). Tatsächlich hatte Auer in diesem Werk alle Überlegungen und Argumente des Komitees vor allem hinsichtlich der industriellen Ausbeutung der Trass-Lager ausführlich zusammengefasst und das Büchlein sogar mit Fotos illustriert. Am Schluss heißt es: „Wir meinen, die Gleichgültigkeit gen die wertvollen geologischen Vorkommnisse im Kesseltal hätte jetzt lange genug gedauert, die unbegründeten Vorurteile und ewigen Zweifel bezüglich jener nationalen Schätze hätten nun genug geschadet. Wir meinen, es täte ein neuer, so vorzüglich gearteter Industriezweig dem ganzen Lande, unserm Bezirke und allen Teilnehmern wohl. Also herbei zu einem großen Werke fürs Vaterland, für das Kesseltal und seine ganze Umgegend, aber auch für die gesamte Bau-Industrie aller süddeutschen Länder. Mit Gott! Auf zur Tat!!“

 

der Naturzement

Dem Erfolg nahe glaubte man sich beim Kesseltalbahn-Komitee offenbar Anfang Mai 1908. Im Donauwörther Anzeigeblatt stand am 15. Mai zu lesen: „Der Lokalbahnausschuss der Regierung hat die Anfertigung des generellen Projektes Donauwörth – Amerdingen genehmigt. Der Herr Minister hat die baldige Fertigung zugesagt. Ebenso ist das Projekt Amerdingen – Nördlingen angenommen, weil man an eine Bahn Donauwörth – Amerdingen – Nördlingen denkt, wenn sich dieselbe durchführbar erweist. Freilich wird das Projekt Amerdingen – Nördlingen auf manche Schatten stoßen. Wir wünschen das nicht, weil wir unserer Nachbarstadt von jeher mehr Freundschaft entgegengebracht haben als sie uns, und weil wir nie mit lokalen Ziffern gerechnet haben. ...Der liebe Gott, der unsere Angelegenheit bisher so auffallend gesegnet hat, möge sie gnädig weiter leisten, zu Seiner Ehre und zu unserem Besten!!“35) Auch hier waren wieder einige „Spitzen“ gegen die Nördlinger enthalten, denen man zwar eine Bahn nach Amerdingen ebenfalls gönnte, aber eigentlich nur als Ergänzung der eigenen Pläne. Bei einer Komiteesitzung in Bissingen hieß es optimistisch, man befinde sich jetzt auf dem einzig richtigen Weg zum großen Ziel.

So positiv stellte sich die Situation in dieser Zeit indessen nicht überall dar. Die Kesseltalbahn stand nämlich bei einer öffentlichen Plenarsitzung der Handels- und Gewerbekammer für Schwaben und Neuburg in Augsburg am 26. Mai 1908 als ein Hauptpunkt auf der Tagesordnung. Hier wurde der Streit zwischen den drei Interessengruppen Nördlingen, Donauwörth und Höchstädt/Dillingen auf den Nenner gebracht, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kesseltales ließen nur wenig Hoffnung auf die erfolgreiche Alimentierung einer Bahnlinie. Land- und Forstwirtschaft sowie die Viehzucht erbrächten nur spärliche Gütertransporte, die geringe Bevölkerung nur einen unzureichenden Personenverkehr. So könne man von Standpunkt der g e g e b e n e n Verhältnisse die Erschließung des Tales auch vom wohlwollendsten Standpunkt aus nicht gerade als eine N o t w e n d i g k e i t ansehen36). Allerdings wurde in dem für die Kammer erstellten Bericht auch konstatiert, die Untersuchungen zum Kesseltaltrass hätten in die Bahnfrage ein neues Moment hineingebracht. Es bestehe die Hoffnung, dass sich durch dessen Gewinnung und Verarbeitung eine Industrie im Kesseltal entwickeln werde. Zitiert wurden die Angaben des Direktors Hans Vetter von der Firma „Deutsche Steinwerke A.-G. Vetter“ aus Eltmann. Diese unterhielt zu dieser Zeit in Nördlingen am Bahnhof eine Werkstätte zur Bearbeitung der in den Steinbrüchen Altenbürg, Aufhausen, Amerdingen, Ober- und Unterringingen. Die Zahl der Steinmetzen und Hilfskräfte wurde dort gerade von 50 auf 100 aufgestockt. Hans Vetter rechnete nach dem Bau einer Eisenbahn nach Nördlingen mit einer Jahresproduktion an Trassbausteinen in seinen Brüchen von mindestens 4000 Kubikmetern. Das würde rund 1000 Eisenbahnwaggons mit zehn Tonnen Ladung bedeuten. Die Deutschen Steinwerke teilten der Kammer zudem mit, dass sie in Nördlingen zusätzlich zum bestehenden Werk auch eine Trassmehlfabrik für die Mörtelproduktion bauen wolle, die eine Jahresproduktion von etwa 1500 Waggons anvisiere. Im Bericht an die Handels- und Gewerbekammer hieß es dazu allerdings – und das dürfte durchaus an die Adresse sowohl des Nördlinger Eisenbahn-Komitees als auch des Kesseltalbahn-Komitees gerichtet gewesen sein – einschränkend: „In diesem Zusammenhang ist es Pflicht der Kammer, darauf aufmerksam zu machen, dass der Förderung der Trassgewinnung und damit der Bahnfrage durch verschiedene Überschwänglichkeiten, welche in dieser Angelegenheit den Weg in die Presse gefunden haben, nicht gedient ist.“ Wenn man die Interessen der Stadt Augsburg, den leichteren Zugang des Trasses zu den großen Verbrauchsplätzen München und Augsburg und die geographischen Verhältnisse berücksichtige, hieß es in dem Bericht weiter, müsse eine Linie vom oberen Kesseltal nach Donauwörth gebaut werden. Trotz alledem solle sich die Kammer, falls nicht eine Kompromisslinie nach Tapfheim zustande komme, für eine Bahnlinie nach Nördlingen aussprechen. Dafür sprächen nämlich die insgesamt näher an Nördlingen liegenden Hauptfundstellen des Trasses, die bereits installierte Trassindustrie in Nördlingen, die Rücksicht auf die Verbrauchsplätze Nürnberg, Stuttgart und Würzburg, aber auch die wirtschaftliche Anbindung des oberen Kesseltals an Nördlingen. Außerdem wurde argumentiert, Nördlingen habe durch die Erbauung der Bahnlinie Donauwörth – Treuchtlingen viel verloren und habe deshalb ein moralisches Anrecht auf Ersatzleistungen. Und schließlich habe die Stadt Nördlingen ja bereits 50.000 Mark für die Grunderwerbskosten einer Lokalbahn nach Amerdingen bewilligt.

 

Bei all diesen Abwägungen konstatierte die Kammer indessen befriedigt, dass die Aussicht auf ein Ende des Streites bestehe und eine Vermittlungslinie gefunden werde, die auch die Interessen Höchstädts und Dillingens zur Geltung kommen lasse. Eine neue Bahnlinie würde jedoch zweifelsohne als Lokalbahn und nicht als Vollbahn geführt und könne auch nicht nach Württemberg fortgeführt werden. Donauwörth müsse jetzt ebenfalls das erforderliche Geld für das Projekt beschaffen.

 

Mit einer Bahn von Tapfheim über Amerdingen nach Nördlingen müsste eigentlich den Interessen sowohl der Stadt Donauwörth als auch der Stadt Nördlingen am meisten gedient sein, stellte der Vorsitzende der Handels- und Gewerbekammer, Paul von Schmid, abschließend fest. Vollständig zufrieden zeigte sich angesichts dieses Fazits auch Nördlingens Vertreter Sigmund Marx.

 

 

 

Bei der Behandlung der Kesseltalbahnfrage in Augsburg wurde einmal mehr deutlich, dass der ursprüngliche Nördlinger Plan einer Eisenbahn quer durch das obere Kesseltal nach Höchstädt inzwischen keine Rolle mehr spielte. Dies wurde bei einer Verhandlung der Bayerischen Abgeordnetenkammer am 2. Juni 1908 betätigt. Hier wurde festgestellt, dass eine Bahn von Nördlingen nach Amerdingen und weiter nach Höchstädt nur schwerlich in Frage komme. Es bliebe nur eine Bahn von Donauwörth oder Tapfheim nach Amerdingen oder eine durchgehende Bahn von Nördlingen über Diemantstein nach Donauwörth. Welche von den beiden letzteren Lösungen eher in Frage komme, müsse die Bahnverwaltung prüfen37).

34)    Original im Stadtarchiv Donauwörth

        35)   Donauwörther Anzeigeblatt vom 15.05.1908

        36)   Sitzungsprotokoll vom 26.05.1908 im Stadtarchiv Donauwörth